VITA

Ulrich Pätzold (*1943 in Bielefeld) studierte die Fächer Publizistik, Philosophie und an der FU Berlin. Redaktionell arbeitete er im RIAS Berlin und in der Züricher Weltwoche. 1978 wurde er zum ordentlichen Professor nach Dortmund berufen und gehörte zu den Gründern des Modellstudiengangs Journalistik. Er leitete das Institut viele Jahre lang wie auch als Dekan die Fakultät Kulturwissenschaften.

Mit Horst Röper gründete er 1984 das Dortmunder FORMATT-Institut. Zahlreiche Forschungsarbeiten über die Entwicklung der Medienstrukturen und ihrer Auswirkungen auf die publizistische Pluralität und die journalistischen Tätigkeitsfelder wurden dort abgeschlossen. Von 1989  bis 2003 war er zusätzlich Direktor des Deutschen Instituts für publizistische Bildungsarbeit, Journalisten-Zentrum Haus Busch in Hagen. Mit Jürgen Hoppe baute er von 2004 bis 2013 die unabhängige Nachrichtenagentur „AKNews“ im irakisch-kurdischen Erbil auf.

Seit 2008 lebt er wieder in Berlin. Mit dem von ihm mitgegründeten Netzwerk „Neue Deutsche Medienmacher“ hat er 2009 am Bildungswerk in Kreuzberg (BWK) nach Vorarbeiten im Bundeskanzleramt (Integrationsgipfel) 15-monatige journalistische Ausbildungskurse für Migranten aufgebaut. Seine Zum nutzte er nun zum Schreiben von Büchern. Während der Corona-Pandemie 2020 entstand der Roman „Sonnenfinstrnis-Im Hinterhof der Politik“.

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Biografische Daten signalisieren eigentlich mehr oder weniger große Lebensepochen. Manchmal heben sie einenTag oder ein Jahr hervor, als überrage das alles, was vorher und hinterher den Lebensalltag geprägt hat. Hier will ich etwas unterhaltsamer erzählen, wie mein Leben vorangeschritten ist, will ein paar Bögen über eine lange Zeit spannen.

Die Geburtsheimat
Geboren wurde ich am 20. August 1943 in Bielefeld. Meine Mutter wurde schwanger, als die deutsche Armee in Stalingrad eingekesselt war. In der dort Ende Januar 1943 beendeten Schlacht verloren rund 700.000 Menschen ihr Leben. Danach stürzten sich die Nazis auf die Vernichtung und Vergasung der Juden in den Konzentrationslagern. Im August 1943 dürfte die höchste Effektivität dieser Nazi-Mordmaschinerie erreicht worden sein. Kaum ein Jahr alt, da wurde am 30. September 1944 meine Geburtsstadt durch Bomben in Schutt und Asche gelegt. 1,300 Menschen  starben. Am 4. April 1045 marschierten amerikanische Truppen in die Stadt ein. „Behütet“ war meine Kindheit. Die Nazizeit galt als moralische Last. Je älter ich wurde, desto mehr beschäftigte mich meine Geburtszeit, über die wir in meinen ersten zwei Lebensjahrzehnten zu wenig erfuhren.
Meine Schulzeit im Bielefelder Ratsgymnasium war humanistisch. Neben guten Lehrern gab es zu viele Lehrer, die an der Niederlage des Landes im Krieg litten. Wegen der Zerstörungen fand der Unterricht im wöchentlichen Wechsel bis zur Untersekunda (10. Klasse) am Vormittag oder am Nachmittag statt. Einen Schultadel erhielt ich 1961, als ich vor der Schule Flugblätter verteilte, die Willy Brandt als den besseren Politiker für Deutschland gegenüber Konrad Adenauer priesen. In der Zeit las ich Böll und Kafka, die vom Kanon der Schulliteratur ausgeschlossen waren. Bis zum Abitur im Februar 1963 hatte ich mich bereits zu einem Nonkonformisten stilisiert, schrieb Gedichte und Prosa für mein Tagebuch voller Verachtung für die deutsche Gesellschaft. Natürlich wollte ich Journalist werden. Meine Eltern starben im kurzen zeitlichen Abstand während meiner Oberstufenzeit. Meine drei Geschwister waren älter als ich. Wir hielten nach dem frühen Tod der Eltern eng zusammen.

Der Berliner Weg in den Beruf
Sofort nach dem Abitur zog ich nach Berlin. So konnte ich dem Wehrdienst entgehen, für den ich bereits gemustert war. Berlin zog mich an, weil ich dort die deutsche Gegenwart als West-Ost-Konflikt lebhaft spürte. Dort hoffte ich der provinziellen Enge zu entkommen. Die Stadt in ihren Gegensätzen und mit ihren Anregungen aus der Präsenz historischen Verknüpfungen, ihren sozialen und kulturellen Biotopen hat mich mehr als jede andere Location dieser Welt bis heute geprägt. Studiert habe ich an der Freien Universität Publizistik, Philosophie, Geschichte, Literatur- und Theaterwissenschaft. Vor allem habe ich während meiner Studienzeit gelernt, dass eine Universität Brennpunkt für den Gestaltungswillen einer gerechteren und offeneren Gesellschaft sein kann. Aber auch die Überschätzung der eigenen Person und der sogenannten Intellektuellen ist für mich Erbe meiner FU-Zeit geworden.


In West-Berlin lebte ich mit Verwandten und Freunden in einer großen alten Villa am Wannsee mit einem riesigen verwilderten Garten und einer Balustrade am Wasser, von der aus wir mit unserem selbstgebauten Katamaran in See stechen konnten. Ich verkehrte mit Schauspielern, Musikern, Literaten und Professoren als sei es nur eine Frage der Zeit, wann ich ihresgleichen sein würde. Zahlreiche Theorien - vom Anarchismus über den Marxismus, vom absurden Theater über den Surrealismus, von der dialektischen Philosophie über den kritischen Rationalismus, vom Zerfall der bürgerlichen Kunst über den realen Sozialismus - beherrschte ich in Wort und Schrift und pendelte sie für mich aus, um schließlich doch Max Weber und Karl Popper als Ahnen meiner geistigen und wissenschaftlichen Entwicklung lieben zu lernen. Ich lernte, radikal zu denken, blieb aber in meinem Verhalten ein gemäßigter Mensch.


Nach meinem Studium arbeitete ich wissenschaftlich und journalistisch. Meine beruflichen Optionen überließ ich den Zufällen der Angebote und den gerade vorgefundenen Situationen. Intensiv habe ich im RIAS Berlin gearbeitet. Meine Verehrung von Egon Bahr und die aus ihr resultierende Nähe zu seinem strategischen Denken hatten das Ergebnis, dass ich als junger Journalist die sogenannte Ostpolitik vollständig im Kopf hatte, als es den Namen dafür noch gar nicht gab und Willy Brandt mit Egon Bahr noch lange nicht im Regierungsapparat angekommen waren. Später war ich dann in der Züricher Weltwoche im Feuilleton. Mein Mentor und Lehrmeister war Francoise Bondy. Er weihte mich in die europäischen Kulturbetriebe ein und lebte mir vor, wie groß eine Persönlichkeit als Kulturkritiker sein kann, wenn er sich vollständige Unabhängigkeit erarbeitet. Bruno Ganz lernte ich in Zürich kennen. Zwei Jahre älter als ich überredete er mich, die Gegenwart in Berlin besser studieren zu können als in Zürich.
Meine wissenschaftlichen Ziehväter in der Wissenschaft waren in der Berliner Publizistik Harry Pross und Fritz Eberhard. Beide waren Quereinsteiger in der Wissenschaft. Eberhard kam als Sozialist aus der Emigration zurück nach Deutschland und war Intendant des Süddeutschen Rundfunks gewesen. Er hatte in Berlin vor allem dazu beigetragen, dass die sozialwissenschaftlichen Methoden aus den USA auch in Deutschland die empirischen Grundlagen der Kommunikationswissenschaften werden konnten. Ihm diente ich jahrelang als Chauffeur, da seine Wohnung in der Ahrenshooper Zeile auf meinem Weg zum Wannsee lag. Harry Pross war als Chefredakteur von Radio Bremen gekommen, ein großer liberaler Geist, der die Lebenserfahrungen eines Relativisten ins Institut brachte und neben der badischen Fahne das Vorbild seines Landsmannes Gustav Radbruch in Berlin hoch hielt. Ich war der erste, den er promovierte. Oft durfte ich Gast in seinem großen Allgäuer Bauernhaus sein.


Mein Glück als Wissenschaftler in Dortmund
Fast überraschend erhielt ich 1978 die Chance, in Dortmund als ordentlicher Professor am Aufbau des Modellstudiengangs Journalistik mitzuarbeiten. Das war ein riesiger Karrieresprung und ich hatte ihn dem damaligen nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Johannes Rau zu verdanken, zu dessen vielen Patenkinder dieses Modell gehörte, mit dem zum ersten Mal eine journalistische Hochschulausbildung geschaffen wurde, in der ein wissenschaftliches Studium mit einem Volontariat verbunden war. Das Modell wurde zu einer Erfolgsgeschichte, und diese Erfolgsgeschichte begleitete meine dreißigjährige Tätigkeit an der Dortmunder Universität. In der langen Zeit waren Dortmund und Nordrhein-Westfalen meine geistige, wissenschaftliche und politische Heimat. Mein Freundes- und Bekanntenkreis war sehr groß, oft eng verbunden mit den Netzwerken in der Politik, in den Medien und in den wissenschaftlichen Einrichtungen. Mit meinem ehemaligen Studenten Horst Röper gründete ich in unserem gemeinsamen Haus auf einer Halde gegenüber der Universität 1984 das Forschungsinstitut FORMATT, das Dank der akribischen Recherchen und des schier unendlichen Wissens von Horst Röper von Jahr zu Jahr eine medienpolitisch wachsende Bedeutung in Deutschland erlangen konnte.


Zurück in Berlin
Meine 30 Dortmunder Jahre sind zum Kern meines beruflichen Lebens geworden. Privat habe ich ein eher bescheidenes Leben geführt, in meinen zwei Ehen wenig vorbildlich. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass ich Beruf und Privatleben nicht ausgeglichen gepflegt habe. Als ich 2015 in Berlin wieder heiratete, wurde das anders. Ich habe nicht nur das größte Los gezogen, sondern habe nun eine Beziehung aktiv zu führen verstanden, in der alles in Superlativen die Lebensqualität steigert.
Berlin war nach meiner Rückkehr 2008 eine andere Stadt geworden als das Berlin meiner Studienjahre und meiner ersten Berufszeit. Ganz nah am Hauptbahnhof hatte ich eine herrliche Altbauwohnung erstanden, bevor die Baugrube für den Bahnhof ausgehoben wurde.   Fast die gesamte Innenstadt war eine riesige Baustelle, die zu durchwandern ein merkwürdiges Gefühl erzeugte. Um den Bahnhof wurde auf einer weitflächigen Brache das Regierungsviertel hochgezogen. In der surrealen Wüste des Potsdamer Platzes konnte man in Gruben schauen, deren Ausmaße horrende waren. Die unzähligen Freiflächen in den ehemaligen Ostberliner Straßen, Folge abgetragener Hausruinen, füllten sich mit neuen Bauten. Viele Altbaubestände wurden saniert. In den 90er Jahren floss unermesslich viel Baukapital in die Stadt. Ein Jahrzehnt später, ab 2000 nach dem Platzen der New Economy Blase an den Aktienmärkten wäre ein derartiger finanzstarker Wiederaufbau nicht mehr denkbar gewesen. Vor allem der Wiederaufbau der Stadtmitte im ehemaligen Ostberlin faszinierte mich als eine Manifestation meiner eigenen Biografie. In dieser Stadt wollte ich leben als Teil jener Veränderungen, die ich beobachten konnte.
Berlin war aber auch durch eine Bevölkerungsfluktuation eine andere Stadt geworden, internationaler, multikultureller, sozial anfälliger. Türken gab es bereits während meiner Studentenzeit. Doch die ethnischen Gruppen haben uns damals kaum in ihrer dynamischen Bedeutung für die Veränderung der Gesellschaft interessiert. Schön war es damals, auf den Markt am Paul-Lincke-Ufer zu ziehen oder die Gemüsestände am Kottbusser Tor zu genießen. Auch gab es schon in West-Berlin viele Menschen, die weit unterhalb der Armutsgrenze ein abgehängtes Stadtleben erlitten. Für sie interessierten sich soziale Initiativgruppen oder die großen Behörden des Senats. Politisch wurden sie von allen übersehen, die sich um die Eroberung der Arbeiterklasse bemühten. Als ich 2008 nach Berlin zurückkehrte, war der Berliner Slang weitgehend aus dem öffentlichen Sprachraum verschwunden. Umso klarer waren die Integrationsprobleme der vielen Eingewanderten und Zugereisten und umso auffallender waren die Verwerfungen in der sozialen Stadt Berlin. Hochverschuldet wie die Stadt ist, wurden soziale Hilfen immer weiter abgebaut. „Sparen, bis es quietscht“ war die politische Parole. Im Erscheinungsbild der Stadt wurden die Folgen der öffentlichen Sparpolitik immer offensichtlicher.


Am Ende meiner Dortmunder Zeit hatte ich angefangen, im Bundeskanzleramt am „Nationalen Integrationsplan“ mitzuarbeiten. Ich setzte auf die Ziele und Methoden der neuen Integrationspolitik als progressiven Beitrag der Regierung auf dem Weg zur Anerkennung einer Einwanderungsgesellschaft, die es in Deutschland de facto seit Jahrzehnten gibt. 2009 gehörte ich zu den Gründungsmitgliedern der „Neuen Deutschen Medienmacher“. Mit diesem Netzwerk wollten wir Veränderungen im Journalismus durch mehr Partizipation von Migranten und durch kompetentere mediale Darstellung ihres Lebens und ihrer Probleme in Deutschland bewirken. Es war ein überraschendes Glück, wie schnell hunderte Kolleginnen und Kollegen mit migrantischen Wurzeln zu uns fanden und  sich aktiv in die Organisation einbrachten. Der Auftrag ergab sich aus den Fakten: Jeder fünfte Einwohner im Land besitzt einen sogenannten Migrationshintergrund, aber nur jeder fünfzigste Journalist.


Mit meinen Erfahrungen aus Dortmund und mit meinen Kolleginnen und Kollegen der Neuen Deutschen Medienmacher habe ich dann mein Spätwerk in der Ausbildung begonnen. Am Berliner Bildungswerk in Kreuzberg (BWK) haben wir einen 15 Monate dauernden Ausbildungskurs für Migrantenjournalisten aufgebaut. Etwa 20 Redaktionen unterstützten uns dabei, indem sie Praktikaplätze zur Verfügung stellten. Unser Netzwerk zahlte sich aus, denn wir gewannen zahlreiche, oft prominente Journalistinnen und Journalisten für unsere Arbeit. In diesen Kursen wurde mir deutlich, wie unterschiedlich die Perspektiven sein müssen, um auf die Realitäten in Deutschland zu schauen. Wir haben einen immensen Nachholbedarf in der journalistischen Kultur unseres Landes, um den potenziellen Reichtum der Vielfalt zu erschließen.


Literatur mit Journalismus – das geht
Mein schriftstellerisches Leben begann erst nach meiner Emeritierung in Dortmund. Mir war klar geworden, dass wesentliche Einstellungen und Überzeugungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens entwickelt, eng mit seiner Biografie und den in ihr enthaltenen Impulse verbunden sind, wie er sich mit seinem Leben und seiner Lebenszeit auseinandersetzt. 2012 habe ich ein Buch über mein Altern geschrieben, in dem ich versucht habe, diesen Reflexionsprozess in vielfältiger Weise vorzuführen (8und60 – Notizen im Alter. Berlin 2012). Zwei Jahre später habe ich die Verbindung aus biografischer und zeitgeschichtlicher Positionierung auf einer anderen Projektionsebene fortgesetzt, die nun Berlin zum Gegenstand hatte. Daraus ist ein Buch entstanden, das mir sehr ans Herz gewachsen ist nicht nur, weil es erfreuliche Verbreitung fand (Berlin – Geschichte in Geschichten. Freiburg 2014).


Der Schritt aus dem Journalismus raus in die Literatur kam erst sehr spät, da zählte ich bereits 70 Jahre. Ich schleppte ein volles Gedächtnis mit unzähligen Erlebnissen, Beobachtungen und Erfahrungen vor allem auch mit Politikern unseres Landes mit mir herum. Mich hatte stets interessiert, was Menschen antreibt, politische Karriere machen zu wollen, wie sie als Person mit Macht umgehen, die für die Ausübung von Politik unerlässlich ist. Ich war sicher, dass es viele Politiker in der Demokratie gibt, die mehr Achtung und Respekt verdienen als die Menschen ihnen entgegenbringen. Ebenso sicher aber war ich auch, dass die Verführung eines politischen Menschen durch die Möglichkeiten, Macht zu finden und für die Demokratie schädigend zu nutzen, eine negative Folge des Mangels ist, wie Macht in den öffentlichen Diskursen erörtert wird. Dieses Machtproblem war mir vor allem im Flüchtlingsjahr 2015 sehr deutlich bewusst geworden. Ich suchte also nach einer Möglichkeit, eine Geschichte zu finden, in der ich meine Gedanken literarisch geformt erzählen könnte.


Der Zeitenlauf kam mir entgegen. 2020 war das erste Jahr der Corona-Pandemie. Wir rieben uns die Augen, was alles geschah. Wir fügten uns in die Einschränkungen und erlebten, dass nun unser Alltag ganz anders wurde, weniger sozial, weniger kulturell. Vor allem wir Rentner und Pensionäre hatten auf einmal viel Zeit, gingen kaum noch aus unserer Wohnung und mieden Kontakte. Diese äußeren Umstände trieben mich an den Schreibtisch. In den Monaten März 2020 bis Januar 2021 entstanden einige hundert Seiten des Romans „Sonnenfinsternis-Im Hinterhof der Politik“. Er spiegelt die Monate März bis Mai 2015. Die Führung durch den Roman habe ich als E-Book-Fassung gleich anschließend geschrieben. Denn Der Corona-Ausnahmezustand hielt an.


Berlin, Februar 2021

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