Nach der Veröffentlichung des Romans als E-Book im Pandemiewinter 2021 habe ich vom März bis zum August 2021 monatlich einen Newsletter verschickt, in dem ich über die Geschicke in dem digitalen Experiment dieser Art von Roman-Publishing berichtet habe. In dem Newsletter gab es eine ständige Rubrik, die mit Denkanstöße überschrieben war. Diese sechs Denkanstöße fasse ich hier noch einmal zusammen.

(Denk)Anstöße

Die Fragestellung

Aus drei Quellen wird die private Person M in dem Roman "Sonnenfinsternis-Im Hinterhof der Politik" erschlossen: Aus seinen Träumen, aus seinen Begegnungen mit Astrologen und aus seiner Konfrontation mit der SS-Ordensburg Vogelsang.

Literarisch entsteht eine Persönlichkeit voller Irrationalität. Seine dunkle Herkunft drückt ihn unter den Schatten seiner Mutter. Dass er - ein Kind von Nazis - als Baby ausgesetzt wurde und in der Umgebung seiner Adoptiveltern machtfähig erzogen wurde, ändert nichts an der Tatsache, dass die Privatheit der Persönlichkeit M ungleich spektakulärer ist als die öffentliche Persönlichkeit M als Bundestagsabgeordneter. Diese persönliche Geschichte von M ist für mich eine Parabel über die deutsche Nachkriegsgeschichte, in der die Verdrängung der Nazizeit ebenso nachhaltig durchgezogen worden ist wie ihre permanente Anwesenheit das Leben in Deutschland bestimmt hat.

Rechtliche Klarstellung
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR 2004): "Bei der Abwägung zwischen dem Schutz des Privatlebens und der Freiheit der Meinungsäußerung ist darauf abzustellen, ob (Informationen) zu einer öffentlichen Diskussion über eine Frage allgemeinen Interesses beitragen.... Bei Personen des öffentlichen Lebens, insbesondere bei Politikern, hat die Öffentlichkeit unter besonderen Umständen auch ein Recht auf Informationen über Aspekte ihres Privatlebens."

Der Bundesgerichtshof (BGH 2017) erläutert näher, was unter "den besonderen Umständen" zu verstehen ist, unter denen Privates einer Persönlichkeit öffentlich gemacht werden kann: "Das Verhalten vor und nach ... einem bedeutsamen Ereignis ... kann durchaus Gegenstand öffentlicher Diskussionen sein. Das Verhalten von Politikern in derartigen Situationen kann der Öffentlichkeit wertvolle Anhaltspunkte nicht nur für die Einschätzung der jeweiligen Person im Verlauf ihrer weiteren politischen Laufbahn, sondern auch für die Beurteilung des politischen Geschehens im Allgemeinen geben."

Die nüchtern juristisch gefassten Sätze sind wie eine Blaupause für die Konstruktion des Romans als fiktives Bild, wie das Private kraftvoll mitbestimmt, was wir in der Politik als Ereignis öffentlich wahrnehmen. Ich beschreibe in der Fiktion eine politische Persönlichkeit, die eine aktive Rolle im Bundestag auf den Feldern Terrorismus, Flüchtlinge, Extremismus spielt - und in seinem Machtstreben die Balance verliert.

Wir lernen im Roman zu verstehen, dass er seine Lebensgeschichte nicht in den Griff bekommen kann und auf Kräfte vertraut, die für den politischen Diskurs in der Demokratie untauglich sind. Wer das repräsentative Amt bekleidet, für uns im Bundestag die allgemeinen Dinge so gut wie möglich zu vertreten, muss damit rechnen, dass wir Journalisten und Literaten ihn zu entkleiden versuchen, wenn wir mitbekommen, dass mit dieser Amtsperson etwas nicht stimmig ist. So gesehen ist mein Protagonist M zugleich Täter wie auch Opfer. Das gilt nicht nur für M als literarische Figur, es gilt für sehr viele, die nach dem Krieg erwachsen geworden sind.

 

Fakten und Fiktion, Journalismus und Literatur: Passt das zusammen?

Der Roman ist eine Montage aus journalistisch zusammengefügten Fakten aus den Monaten März bis Mai 2015 und literarisch erzeugten Fiktionen ausemotionalen Seelenbildern im Leben des Protagonisten M. Journalistische Methoden und literarische Methoden bestimmen im wechselnden Zusammenspiel die Dramaturgie des Romans. Es soll deutlich werden, wie unaufgeräumt ein Lebenslauf das Politische beschränkt, wie aber auch die reale Politik zum Verhängnis eines Menschen werden kann, der mit ihr die Dunkelheit seines Lebens verbindet.

Die Verbindung von Journalismus und Literatur baut eine Deutungsmöglchkeit auf, wie verstrickt Realität und Irrealität sind im Streben nach Anerkennung, Einfluss in der Politik und Macht in gegebenen Strukturen. Themen wie Terrorismus, Flüchtlinge und Rechtsextremismus werden aus der distanzierten Perspektive der journalistischen Wahrnehmung und aus der individuellen Perspektive von M beschrieben. Eine tragfähige Zusammenführung ist nicht möglich. Was der fiktive Bundestagsabgeordnete M politisch zu seiner "Chefsache" macht, ist rein opportunistisch und scheitert in der Sache.

Das Politische - die Themen und ihre Bedeutung für das Parlament - ist dem Rationalen zugeordnet und wird nach guter journalistischer Manier erschlossen. Die Spiegelung des Politischen in der gebrochenen Lebensgeschichte von M ist pure Fiktion als "Logik" der Irrationalität, zeichnet die wenig überzeugende politische Persönlichkeit M. Mit diesem Verfahren wird ein Problem deutlich, das Menschen jenseits von Literatur und Journalismus charakterisiert: Der Mensch ist anders als er will. Der Mensch will anders als er ist.

Die Coronazeit ist gut geeignet, diese innere Spannung des Menschen sichtbar werden zu lassen. Wir sind überzeugt, dass wir selbst vernünftig genug sind, die Übertragung des Virus zu unterbinden. Wir sind wütend auf Menschen, die zu leichtfertig sind. Wir halten viele Maßnahmen für notwendig, kritisieren aber die Folgen für unser eigenes Leben.

Da stellt sich die Frage, warum man das Unmögliche will? Philosophen mögen die Frage systematisch beantworten. Für unseren Alltag ist die Literatur eine geeignete Kunst, sie mit ihren Mitteln in den Mittelpunkt zu rücken. Der Lockdown strapaziert die Vernunft. Sie sagt, Maßnahmen müssen sein. Dagegen macht das Gefühl Front. Gefühl und Vernunft geraten in Konflikt, werden zu Dauerkontrahenten, je länger diese Zeit unter solchen Bedingungen anhält.

Eigentlich ist M in meinem Roman ein Mensch, wie wir ihm zur Zeit in dieser oder jener Weise überall begegnen. Als lebendiges Individuum ist jeder Mensch Teil dieses Widerspruchs. Das zu wissen, kann vielleicht dazu beitragen, sich in großen politischen Krisen ein wenig zu entspannen, etwas lockerer mit seinem eigenen Leben umzugehen.

 

In meinem Roman spielen Astrologie und allerlei Wahrsagerei eine erhebliche Rolle. Meine Recherchen in den Berliner Magiewelten waren umfangreich, und ich fand manche Hinweise, wie häufig und intensiv sie von Personen aufgesucht werden, für die Macht im Mittelpunkt ihres Lebens steht. Je deutlicher mir die Verbindung dieser beiden Sphären wurde, desto mehr wuchs meine Vorsicht, im literarischen Spiel von Magie und Macht Lächerlichkeit zu erzeugen. Die Verbindung soll keine Menschen verletzen. Ich hatte davon auszugehen, dass es nicht wenige Politiker gibt, die als Verstandesmenschen nach Leitlinien aus dem Magischen suchen, um sich aus dem großen Kosmos die optimalen Schritte für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit eröffnen zu lassen, sich gleichsam im magischen Medium eine höhere Weihe zu erwirken.



Der real existierende Astrologe Toni Bonin - in meinem Roman erwähnt - hat sogar damit geworben, hochrangige Politiker zu seinen Klienten zählen zu dürfen. In Berlin, so versicherten mir meine Befragten in der Recherche, gibt es über 3000 Personen, die beruflich mit Hexerei, Kartenlesen, Sternedeuten, magischen Sitzungen und schamanischen Techniken ihren Unterhalt verdienen. Manche machen offensichtlich viel Geld damit. Stets geht es diesen Leuten um Energien, für die sie Antennen haben, die sie bewegen, die sie leiten können. Die Welt der Energien verstehen sie als eine Welt der Psyche und des gestaltenden Geistes. Kräuter, Säfte, geheimnisvolle Substanzen gehören zu ihren Essenzen wie auch Bücher, in denen das Wissen von Anfang an der Menschheit gespeichert ist.



Meine Gewährsfrau aus den Recherchen ist eine moderne gebildete Wahrsagerin, die Psychologie studiert hat und das Leben einer Hexe führt. Hexen erkennen sich untereinander als Eingeweihte. Außenstehende können sie nicht erkennen. In indivdualisierten Ritualen kann meine Wahrsagerin ihre Kunden "Auf eine Spur setzen", auf der sie, von geheimen Kräften getragen, die "Göttlichkeit ihrer eigenen Persönlichkeit" als "Bestimmung des Universums" erleben. Sie kann mit ihren Ritualen eine Persönlichkeit "transformieren" - aus Zwängen befreien, denen sie nicht gewachsen sind, oder eben auf eine höhere Ebene der selbstsicheren Macht befördern.

 Meine Beschreibungen im Roman bleiben im Rahmen dessen, was ich als Ambiente, als personale Selbstinszenierung und berufliche Arbeitsmittel recherchieren konnte. Ich hatte zu lernen, mit Hexen Frauen zu bezeichnen, die mit mythologischen Symbolen und Methoden Unabhängigkeit gegenüber der Welt ihrer Klienten ausnutzen und ihre Selbstermächtigung für kosmische Kraftentfaltung feiern. Die Reise von M auf die Mani öffnet ihre Welt in einigen Bildern, ohne M tatsächlich den Zugang in das Reich der Hexen zu ermöglichen.

Magie und Politik bleiben auf der personalen Ebene Antagonisten. Da driften die einander verwobenen Eigenschaften der Materie und der Psyche am weitesten auseinander. Im Ritual gewinnt aber die Machtlose Macht über den Machtvollen, schiebt ihn in eine Welt, die er in seinen gelernten Rollenspielen der Machtausübung verdrängen muss. Der Kunde verspricht sich durch das Ritual Kräfte als Schübe für Erfolg. Die Hexe aber weiß, er kann durch die Kräfte des Rituals auch aus seinen Bahnen geworfen werden, kann erfahren, seinen Machtansprüchen nicht mehr gewachsen zu sein.

Als gelernte Psychologin nutzt meine Wahrsagerin innerhalb ihres Rahmens wissenschaftliche Möglichkeiten. Magie und Wissenschaft sind für sie keine Gegensätze. Sie ist überzeugt, die Wissenschaft holt das magische Wissen irgendwann ein und lernt, mit dem Eigenleben des Magischen als Kosmos umzugehen. Magisches Wissen ist für Politiker attraktiv, weil es Möglichkeiten erschließt, die man nicht wissen kann. Es verschafft Vorsprünge im Wirkungsgeflecht der dauernden alltäglichen Konkurrenz. Die aus Magie vermittelten Zeichen stärken den Machtwillen und das Erfolgserleben. Wer in einer Sonnenfinsternis mehr sucht als den Mondschatten zwischen Sonne und Erde, kommt um die Medien der Magie, um die aus Magie Wissenden nicht herum.



So kann man meinen Roman auch lesen: M, der Bundestagsabgeordnete, kann sich politisch nicht im herrschenden rationalen Wissenssystem behaupten. Dass ich ihn politisch scheitern lasse, ist eine bewusste Entscheidung gegen Irrationalität und Magie. Studien legen nahe, dass Menschen an Magie umso eher glauben, je hilfloser sie sich fühlen. Das könnte sicher auch in Pandemiezeiten gelten. Nicht die magische Kraft der Wahrsagerin zerstört das Machstreben von M und somit seine politische Persönlichkeit. Die erodiert in dem Maße, wie M seine Hilflosigkeit im Deutschen Bundestag erlebt.



Die Literatur nutzt eine "magische" Kraft, indem sie Personen, Ereignisabläufe und Gedanken wie in einem Spiel zusammenfügt, dynamisch bewegt, um Leserinnen und Leser für Urteile und Gefühle zu gewinnen. Das Ritual einer Wahrsagerin ist ein Fakt, aber kein Beweis. Das Ritual allein ist nur Theater. Aber es offenbart demjenigen, der sich ihm willentlich unterzieht, ein Ziel. Als Element eines literarischen Spiels muss eine Wahrsagerin voll Intuition sein. Diese literarische Zuweisung verbietet es, die Magie als Humus der Macht vorschnell in die Schublade für Spinnereien abzulegen.

 Mehrmals wurde ich gefragt: Wer ist Lilith? Sie taucht im Roman in der astrrologischen Deutung der Germanwings-Katastrophe Anfang April 2015 auf. Lilith ist eine altorientale Dämonin, eng verbunden mit den Göttinnen, die aus den Sternkreisen entstanden sind. Science-Fiction-Serien wie "True Hood" und "Sahrina" haben Lilith, die Dämonin, in unserer Gegenwart weltberühmt gemacht. Einiges kommt aus dem Underground, wenn jemand seine eigene Sonnenfinsternis erfährt. So sollte es auch M geschehen.

Mein Roman-Protagonist M ist ein Politiker, der keine Distanz zu den Dingen hat, die es politisch zu gestalten gilt. Ihm bleiben andere Menschen fremd. Ihn leiten Intuition und Instinkte, wenn er sich fragt, wie die Verhältnisse ihm als Politiker nützen. Der Roman zeichnet seine Person bisweilen wie eine Karikatur. Doch hinter den karikierenden Bildern steht eine Realität, die der Politik nicht fremd ist, auch nicht in einer Demokratie.

In einer Demokratie steht jedem Menschen jedes politische Mandat offen. Wer sich bis nach oben durchgesetzt hat, hat sich „verdient“ gemacht. Das Allgemeingut wird denen anvertraut, die sich verdient gemacht haben und genügend Vertrauen zu gewinnen versprechen. Doch so einfach ist die Wirklichkeit in der Politik nicht. Der Ort, an dem jemand geboren ist, das Elternhaus, die Bildungskarriere, das soziale Umfeld, die Anpassungsfähigkeit bestimmen mit, was man in der Politik werden, was man in ihr gestalten kann. Je höher es im Machtgefüge geht, desto fester wird der zivile Glaubenssatz für das Machtstreben: „Gott will meinen Erfolg. Ich schaffe das.“

Dem Gemeinwohl verpflichtet ist Politik eine berufliche Sphäre, in der Programme und Methoden der Umsetzung zur Wahl stehen. In ihr müssen Ziele klar benannt und Expertenwissen ausgewiesen sein, mit dem politische Ziele verantwortungsvoll erreicht werden können. So jedenfalls verstand Max Weber Politik in einer Demokratie. Ohne Bildung, so Weber, kann sich die Politik als Berufssystem nicht erfolgreich entfalten. Schon Konfuzius, ein Zeitgenosse von Sokrates, lehrte eine ganzheitliche Bildung für diejenigen, die in den Dienst des Staates treten. Nicht alle können in alle Positionen der Macht aufsteigen. Da Macht hierarchisch ist, müssen die Voraussetzungen klar sein, damit Kräfte der Balancen funktionieren können. Denn die Rechenschaftspflicht der Machtausübung unterscheidet ein demokratisches System am eindeutigsten von anderen politischen Systemen.

Wie leicht die Balance gestört werden kann zwischen einer Politik, die allein auf Vertrauen schaffende Eigenschaften einer Persönlichkeit setzt, und einer Politik, die Expertise und Kontrollierbarkeit in den Vordergrund rückt, war am Pokerspiel um die Kanzlerkandidatur der CDU zu beobachten. Der plebiszitäre Erfolg verdichtete die Präsentation eines Ich als ausreichende Qualifikation für die Machtspitze in der Politik. Eine solche Anspruchshaltung vernebelt die Grundlage der Demokratie, die Leistungen aller ins Licht zu rücken, die am Gedeihen des Gemeinwesens beteiligt sind.

Das „Ich“ in der Politik begünstigt einen Persönlichkeitstyp, der herabschaut und anderen die Schuld in die Schuhe schiebt, wenn sie es nicht nach oben geschafft haben. Neben dem Grundsatz der Rechenschaftspflicht gibt es für Politiker in einer Demokratie noch eine weitere Anforderung für Macht und Herrschaft: Sie müssen über Empathie verfügen, müssen erkennen können, was die Menschen umtreibt. Erst das Verständnis für die Belange anderer Menschen qualifiziert einen Politiker in der Demokratie. In meinem Roman habe ich eine politische Persönlichkeit beschrieben, die über keine Empathie verfügt. Es ist deshalb folgerichtig, dass ich M als Politiker scheitern lasse.

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung werden über 3,3 Milliarden Menschen in 58 Staaten autokratisch regiert. Reine Diktaturen und totalitäre Regime wie jenes in Nordkorea sind dabei nicht berücksichtigt. Markenzeichen autoritärer Regierungen: Sie sind durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen, höhlen dann den Machtstaat aus, zerstören die Vielfalt der Medien, unterdrücken die Opposition, entwickeln einen Personenkult und manipulieren weitere Wahlen, um ihre Macht auszubauen und zu stärken.

Staaten wie Burundi in Zentralafrika oder das asiatische Tadschikistan bleiben wie viele andere eher unterhalb des öffentlichen Radars. Milliarden schwerreiche Scheichs und Sultane gehören in großer Zahl zu den Autokraten. Reich sind sie inzwischen fast alle an der Spitze ihres Staates.

Im Laufe der letzten 20 Jahre sind es immer mehr Autokraten geworden, die die Gunst ihrer Wähler:innen gefunden haben, um ihre Staaten zu regieren und Demokratien zugrunde zu richten. Gerade hat es im Iran der Massenhenker Ebraim Raisi aus dem Stamm der Mullahs geschafft. Er regiert nicht anders als sein Kollege Daniel Ortega in Nicaragua. Uns viel bekannter sind die Autokraten Putin in Russland, Erdogan in der Türkei, Bolsonaro in Brasilien, Duterte in den Philippinen, aber auch Orban in Ungarn und mache anderen Staatenführer in den ost- und südosteuropäischen EU-Ländern. Noch sind es, was dem Charakter und der Psychologie dieser Machtmenschen entspricht, die Männer, die das Universum mit ihrer Person bündeln, um Stärke und Durchsetzungskraft zu beweisen. Aber die Erzählung von dem „starken Mann“ an der Spitze ist auch weiblich. Frau Le Pen schickt sich in Frankreich an, die künftige Präsidentin der Republik zu werden.

Mein Roman-Protagonist M ist, hätte er den von ihm ersehnten Erfolg gehabt, ebenfalls der Kategorie der Autokraten zuzurechnen. Seine egomanen Züge habe ich in Teilen vom amerikanischen Präsidenten Donald Trump übertragen. Den amerikanischen Wählern ist Achtung und Respekt zu zollen, ihn im November 2020 abgewählt zu haben, was in autokratischen System viel zu selten vorkommt.

Warum eignen sich Autokraten für die literarische Arbeit? Es sind vor allem ihre Persönlichkeitsmerkmale, die sich vorzüglich mit den Sehnsüchten vieler Menschen nach einer starken Führung des Volks verbinden. Dazu bedienen sie sich einer bewährten Strategie. Die Politik ist komplex, und zu viel Komplexität halten viele nicht aus. Es geht nicht mehr um links oder rechts, um konservativ, liberal oder fortschrittlich. Die Grundsätze von Autokraten sind Antipluralismus, Einfachheit und Emotionalität. Autokraten kommen an die Macht, weil sie Geisteshaltung predigen, statt Inhalte zu prüfen.

Politiker wie M im Roman haben am Ende nicht das Zeug, als Autokrat Macht zu haben – Gott sei Dank. Denn nur Wenige verstehen es, zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Stoßrichtung die richtigen Leute auf ihre Seite zu ziehen, vor allem auch Autoren, Intellektuelle, Pamphleteschreiber, Blogger, Influencer, Fernsehproduzenten, Moderatoren und Chefredakteure – Menschen von außerhalb der Politik. Juristen verkaufen den Verfassungsbruch als Gebot der Stunde. Social-Media-Experten inszenieren Missstände als Systemprodukte. Verschwörungskünstler köcheln mit Dauerlärm und abstrusen Ingredenzien und manipulieren mit Wut, Angst und Zukunftsvisionen.

Autokraten, das ist das Erschreckende, benutzen erfolgreich Teile der Bildungseliten, denen sie goldene Käfige in den Herrschaftspalästen versprechen. Als Teile der Bildungseliten tun sie das, was sie am besten können, und was Autokraten am nachhaltigsten nützt. Sie denunzieren alle anderen Mitglieder ihres soziologischen Stammes als „Eliten“, die ein System mit undurchsichtiger Asozialität ethnisch, politisch und religiös verschworen zusammenhält.

Ohne geistige Wegbereiter finden Autokraten in der Gegenwart nicht zu ihrem Ziel. Autoritäre Selbstdarsteller aus den Bildungsschichten sind die Vorhut für Autokraten, in der Mehrzahl stramm nationalistisch und voller Leidenschaft gegen die Intelligenzia und für das natürliche Volk. Die westliche freie demokratische Ordnung ist für sie ein unmenschliches Monstrum, das für jedes traurige Schicksal der Einzelnen schuldig ist. Um dieses Abstraktum schlagen zu können, sind Intellektuelle nötig, Künstler, Journalisten und Juristen, Einpeitscher, die alle in der geschichtlichen Evolution des Politischen gewachsene Werte aushöhlen und zertrampeln, um ein zukünftiges System herbeizutrommeln, das einzig aus einem Wert besteht: der Machtwille des Autokraten als Herrscherpersönlichkeit.

Kann man einen Menschen unter Drogen beschreiben? Heiligt ein solches Mittel einen literarischen Zweck? Ich habe mich beim Verfassen der Szene auf die autobiografischen Beschreibungen des amerikanischen Forschers Alexander Shulgin verlassen. Shulgin war der wohl nachhaltigste Forscher in der Geschichte der MDMA. Zahlreiche Selbstversuche hat er in einer geradezu nüchternen Sprache über entgrenzende Erfahrungen in ozeanischen Bewusstseinsformen beschrieben. Zusammen mit dem US-Pharmakologen David Nichols hatte er 1978 die erste psychopharmakologische Studie zu MDMA veröffentlicht. Das Kultbuch PiHKAL – A Chemical Love Story, das er mit seiner Frau Ann 1991 geschrieben hatte, war für mich die Grundlage meiner Recherchen.  

Am Ende des Romans löst sich das Zusammenspiel von Journalismus und Literatur in Kunst auf. Die Recherche ist nun nur noch eine Methode, das Innenleben des Protagonisten M wie einen Traum, der nie wirklich geträumt werden kann, beschreiben zu können. Die Kunst erlöst – auch Leser:innen – vom Nachdenken. M muss sich nicht mehr als Abgeordneter des Parlaments beweisen. Er hat keinen politischen Auftrag mehr, ist nicht mehr einzuordnen, gehört sich nur noch allein. Dann gibt es auch nichts mehr zu erzählen. Die Geschichte ist an ihrem objektiven Ende.

Als Kunst entsteht der Blickwinkel in der Schlussszene M mit seiner Wahrsagerin/Astrologin/Psychologin, ein Blickwinkel, aus dem Leiden und Verfluchung eines Menschen entschwinden. So befreiend kann Kunst sein – allerdings auch zu dem Preis, dass auf diese Weise die Persönlichkeit entschwindet, über die es auf den vielen Seiten vorher so viel zu erzählen gab.

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