Die Mania

Die zweite Urlaubswoche verbringt M mit seinem Fremdenführer Tobias auf der Mani, ein Finger der südlichen Peleponnes und sicher die wildeste Landschaft in Griechenland mit einer Bevölkerung, in der alle Jahrhunderte der griechischen Geschichte in einer archaischen Gegenwart verbunden sind.

Ausführlich wird die Hinfahrt mit dem Auto beschrieben. Allein auf einem Parkplatz überfallen M Bilder, in denen er den Schatten seiner wahren Mutter spürt, über die er so wenig weiß, und die das Geheimnis seiner Herkunft mit sich ins Grab genommen hat. Die Rätsel seiner Lebensgeschichte werden in der gesuchten Konfrontation mit seiner Mutter im Lauf des Romans eine immer bedrückendere Rolle spielen.

Sie sind in der Landschaft, die den schönen Namen Arkadien trägt. N ist allein, dämmert auf einem Parkplatz vor sich hin:

„Doch hier oben irritiert ihn das reale Arkadien und sickert in seine inneren Kammern. Er hockt auf dem Stein, die Ellenbogen auf den Knien, den Kopf auf den Handflächen gestützt. Er vernimmt die kühle Sprache in seinem Kopf, Arkadien sei ein ewiger Traum auf dem Papier, ein Paradies, aus dem er längst vertrieben sei, das nur in der Einbildung existieren könne. Er starrt in die Ferne. Die Konturen sind verschwommen, die Formen ergeben kein Bild. Er spürt Angst von innen aufsteigen. Das reale Arkadien spricht in keiner Sprache zu ihm, sie er verstehen will. Die Aufmunterungen aus dem Paradies verklingen in Hohn und Spott. Die Bilderfetzen, die sich aus ihm lösen, sind Schattengestalten des Mythos von göttergleicher Unbekümmertheit in Sehnsuchtsorten ihrer Schöpfer.“

Wie kann man Angst erzählen? Wohl am ehesten in Bildern aus dem inneren Erleben eines Menschen, denen er keine Sprache geben kann:

„Wie aus einer nicht mehr existierenden Welt – und nun fast gewaltsam heftig – taucht an diesem Ferientag in Griechenland das Bild wieder in ihm auf, verbunden mit der bohrenden Frage, wer denn seine richtige Mutter, wer sein Vater sei. Er bemerkt, wie seine Hände zittern. Eine Erschütterung aus dem tiefen Inneren rollt über ihn. Seine Gefühle, die wie ein Panzer verschlossen sind gegenüber allem, was er in der Politik wahrzunehmen und zu verarbeiten hat, liegen für einen Augenblick offen. Er hat keine Sprache. Er weiß nicht, was hier und jetzt mit ihm geschieht. Die Augen sind inzwischen fest geschlossen. Die Angst erwischt ihn kalt, die Spur zu seiner Mutter könne gelegt sein. Er beobachtet sich in einem tiefen Abgrund. Vor ihm türmt sich eine Felswand, riesengroß, zerklüftet, tänzelnd schwebend über ihm. Hinter ihm ebenso eine ähnlich starke gigantische Felswand. Die Wand vor ihm bewegt sich auf ihn zu. Er weicht zurück. Dann bedrängt ihn die hintere Wand und treibt nach vorne. Er spürt ihren Hohn und in sich die Angst. Er kann nicht schreien. Nach vorne ist kein Entrinnen, nach hinten ist der Ausweg versperrt. Er selbst in diesem absurden Spiel ist Betroffener und Beobachter. Keiner sieht ihn, keiner hört ihn. Er ist vergessen. Alle Verbindungen zu seiner Welt sind gekappt. Er schrumpft zu einem nackt gelegten Kern.“

So ist die Grundstimmung für seine Beklemmungen in vielen inneren Bilder gelegt, die ihn die grandiose Mani mit ihren Geschichten in den nächsten Tagen erleben lassen. In die Reiseerlebnisse werden durch seine Begleiter viele historische Hintergründe über die Mani eingeflochten, über die Bedeutung von Sparta und Mistra, über die Härte der Piraterie und die Blutrache, über das Machtstreben der Familie in den hohen Wohntürmen und die Mütter, die ihre Söhne „Gewehre“ nennen. Es ist durchaus beabsichtigt, dass die jeweiligen Informationen auf eine geheimnisvolle Weise mit dem Innenleben von M zu tun haben, ihn „berühren“. Auf diese Weise wird angedeutet, wie zerbrochen sein Machtstreben zwischen dem irrationalen Dunkel, das ihn anzieht, einerseits und den vermeintlich rationalen Zügen in seiner politischen Strategie und Taktik andererseits, die ihm ständig stolpern lassen. Zum Beispiel seine erste Begegnung mit Nikos, seinem ortsansässigen Maniführer:

„“Wir leben hier an einem Tor zur inneren Mani,“ erzählt Nikos beim Essen, „und ich werde euch morgen in ihren Palast führen.“ Die Stimme lässt Ehrfurcht anklingen, wenngleich Nikos mit seinen Formulierungen eine gewisse Ironie zu erzeugen versucht, die er den Fremden schuldig zu sein glaubt, die den Palast  durcheilen werden, ohne seine Geheimnisse wirklich verstehen zu können. „Ich freue mich, dass ihr uns besucht, und es ist mir eine große Ehre, euch führen zu dürfen. Aber ich bin ehrlich, ich bin hier nur Lehrer gewesen. Ich kenne die Männer, denen ich Lesen und Schreiben beigebracht habe, aber ich habe nie so entschieden nach den Gesetzen gelebt, die sie sich gegeben haben, denen sie sich vor allen anderen Gesetze unterworfen haben. Die mächtige Natur der Steine dominiert hier alles, auch die Menschen. Sie sind voller Leidenschaften. Soweit sie hier zu Haus waren, soweit sie hier noch zu Hause sind, gehören sie nur sich selbst und dulden keinen neben sich, der über sie richtet. Es gibt keine Herrscher über die Manioten, es gibt aber auch keine Herrschaft der Manioten. Jeder Maniote herrscht über sich, darauf bedacht, nicht schwächer zu sein als der Nachbar neben ihm.““

Die raue Natur der Mani zu beschreiben, ist eine Möglichkeit, Licht auf die Persönlichkeit M zu werfen:

„M tritt ein paar Schritte über die Steine auf einen Vorsprung hinaus und setzt sich, den Blick nach Süden vor das Panorama einer Schüssel, die wie das Inferno aus Klippen, Schluchten und Felskanten ist. Er setzt sich ein paar Schritte von Nikos und Tobias ab, die vertieft in Gesprächen allein bleiben. Ein unbelebtes Land mit urtümlichen Kräften, irrwitzig zerklüftet, nur selten durch Geröllhalden gemildert in seiner bizarren Wildheit, ein Land, in dem Palisander aus grauen harten Steinen jeden Zugang versperren. Die Sonne ist schon hoch gestiegen und hüllt alles in gleißendes Licht, lässt das Steinmeer lebendig, martialisch, unbezähmbar leuchten. Nur in den nackten Canyons bleibt das Land dunkelschattig duster.
Der Platz, den sich M ausgesucht hat, ist fast wie eine Oase in der Wüste. Wenige Gräser und drahtige bunte Blumen recken sich aus den Steinspalten, jetzt im April in atemberaubender Farbenfrische. Neben ihm wächst sogar, nicht gerade üppig, ein Feigenbaum und breitet seine Schatten bis nahe an ihn aus. „Setz dich nie in den Schatten eines Feigenbaums“, hatte Nikos im Auto gesagt, „denn die Schatten sind schwer.“ M hatte nicht gefragt, warum das so sei. Jetzt hat er die Deutung für sich. Die Schatten verbannen dich in schlechte Träume. Die Müdigkeit nach dem wilden Aufstieg spürt er in den Knochen.
Nachts ist alles schwarz, eine Finsternis, in der die Fledermäuse wach sind. Dann entfaltet das felsige Massiv seine Kräfte und offenbart denen, die dafür empfänglich sind, geheimnisvolle Ursprünge und elementare Zusammenhänge des Lebens. M hat die Augen geschlossen, lauscht seinem Inneren. Der Kosmos hat hier einen Brennpunkt, in dem die Energien gedrückt sind, aus denen er geformt ist. M ist sich sicher, seinem Rätsel näher zu sein. Hier hausen die Götter, die er nicht wirklich kennt.“

An der südlichen Spitze der Mani liegt das aus mythischen Zeiten besungene Tor zum Hades, der Eingang in die Unterwelt. Natürlich reizt es, sie als Metapher für die Ängste von M zu nutzen, für sein Leben mit den Bildern der Dunkelheit in ihm. M fährt mit Tobias in einem engen Kahn in die Pirgos-Diriou-Höhle und Tobias ist es, der die Wort wie eine Begleitmusik zu dem Erlebnis singt:

„„Stell dir vor,“ flüsterte er, als sie in einer ganz engen Passage die Köpfe einziehen mussten und nahe aneinander kauerten, „als wir oben in Arkadien waren, nicht allzu weit von unserem Parkplatz, da stürzt in kleinen Kaskaden der Styx über die Felsen des Chelmosbergs bergab ins Tal und versinkt unter die Erde, ein unheimlicher Ort. Durch ein unbekanntes Tunnelsystem wälzt er sich durch karstiges und tuffiges Gestein bis hierher. Die Götter sind also von den Bergen kommend hier in die Unterwelt gestiegen. Hier in die Höhle kommt Charon, der Fährmann zum Hades. Durch diese Straßen aus Wasser und Gestein geht es geradewegs ins Reich des Pluto. Die Backenzähne, da, sieh, sind noch übrig von einem riesigen Ungeheuer und dort, die Bienenwaben sagen, dass die Toten immer Honig mit auf ihre Reise nahmen. Die Höhle war bewacht von der unbezähmbaren mehrköpfigen Hydra, stärker als jeder Wolf, und die undurchdringlichen Wasserwege, über die wir in das Innere der Berge gleiten, sind die traurigen Flure der Persephone, die in die schwarze Welt führen, von der Odysseus träumte, als ihm die Mutter als Schattengeist stets aus den Händen glitt, wenn er sie zu umarmen versuchte. Denn je weiter die Gestorbenen in diesen Fluten nach innen kommen, desto mehr schmelzen alle Erinnerungen an das Leben. Die Stein gewordenen Bilder von Orpheus und Eurydike siehst du noch hier, und den Geist der von der Aphrodite vom Berg gestürzten Psyche kannst du nur hier in diesem Zwischenreich finden. Danach kommt nur die Weite des Meeres und die unendliche Verschlossenheit des schweigenden Kosmos.““

Am Ende der Reise wird eine Szene eingespielt, die den Politiker M durchdringend auf sein neues Betätigungsfeld vorbereitet. Am Strand stoßen sie auf eine Gruppe Geflüchteter, hier vor der Küste ausgesetzt erbärmlichste Umstände. Es ist April 2015 und das Thema Flüchtlinge fordert eine realistische Sprache, die zur Bedrohlichkeit des Spielorts in Kontrast steht:

„Nikos geht auf die Einheimische zu, begrüßt sie freundlich. Sie reden gestenreich und herzlich miteinander. Tobias und M stehen fremd auf diesem Platz, suchen die Annäherung zu dem Mann mit den bruchhaften Englischkenntnissen. Sie verstehen, dass die Gruppe in einem Schlauchboot über das Meer gekommen ist. Nur sie hätten überlebt, die anderen auf dem Boot seien im Meer ertrunken. Die Schlepper hätten sie, die Überlebenden,  hier vor zwei Tagen aus dem Boot gescheucht; die letzten Meter durchs Wasser hätten sie zu Fuß machen müssen. Nichts sei ihnen geblieben. Alles Geld sei weg. Nach wenigen Stunden sei ein Auto gekommen, habe ihnen die Zelte gebracht und ein paar Decken und sei wieder weggefahren. Nun warteten sie, seien hungrig und wüssten nicht, wie es weitergehe. Sie wollten nach Europa, am liebsten nach Deutschland. Aber sie würden den Weg nicht kennen. Nur ein Wunder könne sie retten.“

Zum Kontrast des Politischen kommt nun aber auch das schlicht Menschliche der Bewohnerin mit dem Namen Elena, die den Flüchtlingen hilft:

„Elena hat sich inzwischen zu den Kindern gesetzt. Die kleine Gruppe strahlt gegen die hilflos herumstehenden Erwachsenen ein wenig augenblickliche Fröhlichkeit aus. Elena streichelt die Kinder, und die Kinder fordern sie zu einem Spiel im Sand auf, lächeln einladend und aus Vertrauen. Nikos hat Tränen in den Augen, wie M bemerkt. Tobias steht fassungslos und schaut weit aufs Meer. M ist voller innerer Unruhe, überlegt, ob irgendetwas zu organisieren sei und kommt schnell zu dem Schluss, dass hier von ihm, von ihnen nichts zu machen sei. Wenn man keinen Rat hat, soll man auch keinen geben, denkt er. Aus seiner Jacke holt er seine Brieftasche. Für den Tag hat er gut vorgesorgt, weil er noch Nikos bezahlen wollte. Aus der Brieftasche zückt er 300 Euro, geht rüber zu Elena und steckt ihr das Geld wortlos zu. Elena erschrickt, kann nicht sprechen, fällt ihm um den Hals, steckt das Geld in die Tasche und widmet sich schamhaft wieder ihren Kindern. „Lasst uns gehen,“ fordert M seine Begleiter auf. Nach wenigen Metern fügt er hinzu: „Das sind leider nicht die letzten Flüchtlinge, die in unser Gesichtsfeld geraten. Ich bin sicher, Europa steht vor einer neuen Zeit.“ Etwas später bricht Nikos das Schweigen und an M gewandt: „Danke, dass du das gemacht hast.“ M lächelt und meint: „Die Euros waren eigentlich für dich gedacht. Aber keine Angst, du wirst sie noch bekommen.“ Tobias legt seinen Arm um Nikos Schulter. Er spürt, wie Nikos innerlich schluchzt.“

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