Große und kleine Zeichen

Der Anfang:
Es beginnt alles sehr harmlos, und wir lernen M als einen Menschen kennen, der durchaus gewissenhaft seine Arbeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag zu erfüllen versucht. Man merkt sehr schnell, dass M nicht gerade einer der ganz großen Politiker auf der Berliner Bühne ist. Aber er ist in seiner Unauffälligkeit nicht unsympathisch. Die Sonnenfinsternis erlebt er als Privatmensch. Er glaubt an den Gang der Sterne, wenngleich er sie nicht du deuten versteht. Dazu hat er eine Wahrsagerin. Die Spannungen im Roman bauen sich auf, weil M seine Karriere als Politiker zu verschränken beginnt mit seiner Neigung, aus den Deutungen der Wahrsagerin Orientierungen für seine Arbeit als Abgeordneter zu gewinnen.

M verschläft die Stunden der partiellen Sonnenfinsternis am 20. März 2015. Solche Ereignisse erzeugen in ihm panische Ängste:

„Am 20. März lag über Mitteleuropa ein kräftiges Hoch. Am Vormittag gab es keine Wolken über dem Himmel von Berlin. Mit viel Sonne war eine freundliche Frühlingswoche angebrochen. Auf den Bürgersteigen war mit dem hellen Licht zunehmend Betriebsamkeit und buntes Leben zurückgekehrt. Obwohl die Luft noch kühl war, füllten sich schon am Morgen die Tische auf den breiten Bürgersteigen mit Gästen, die lächelnd den wärmenden Strahlen vom Himmel entgegen blinzelten und die ersten Versuche gelassener Freundlichkeit im aufziehenden Frühsommer demonstrierten, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder verspielt ihre individuelle Korrespondenz mit dem Allgemeinen, Hellen und Schönen zu pflegen. So startete der Freitagmorgen gelassen heiter, wärmend und sonnig. Es war ein normaler Freitagmorgen in Berlin, der allerdings mit der Zeit immer ruhiger, aber auch angespannter zu werden schien.“

M ist in dieser Zeit in seinem Appartement in Berlin-Charlottenburg, nahe dem Karl-August-Platz. Hätte er von seinem Balkon im Dachgeschoss auf die Straße geschaut, hätte er beobachten können, wie das helle Morgenlicht verdüstert und die Menschen leicht erschauern. Das Leben von M verläuft zunächst ohne Dramatik. Kurz wird sein Arbeitsumfeld im Bundestag beschrieben. Dazu gehören vor allem, wichtig für den weiteren Verlauf des Romans, seine wissenschaftliche Mitarbeiterin und seine Sekretärin. Sie werden wie folgt vorgestellt:

„Über seine Sekretärin spricht M meistens in warmherzigeren Worten als über seine Mitarbeiterin. Im Alltagsbetrieb nennt er sie immer Schatz. Schatz ist mit 55 Jahren ungefähr genauso alt wie er, eine durchaus attraktive Frau, unauffällig, aber stilvoll gekleidet, bestens vernetzt vor allem in der Verwaltung des Bundestages. Schatz führt seinen Terminkalender mit den vielen offiziellen und halboffiziellen Treffen, Veranstaltungen, Gesprächen, Sitzungen und Unterhaltungen. Sie macht die Ablage, die Korrespondenz, räumt auf, telefoniert, mailt im Namen des Abgeordneten. Ohne Schatz, das weiß M, wäre er völlig hilflos dem politischen Stressbetrieb ausgesetzt und nicht in der Lage, auf den Bühnen der Gesellschaft des politischen Berlin mitzuspielen.
Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin nennt er ausschließlich Madame. Mit 37 Jahren ist sie jünger als M. Die studierte Soziologin arbeitet auf der Grundlage eines privatwirtschaftlichen Arbeitsvertrags mit M, der für eine Legislaturperiode mit gegenseitigen Kündigungsrechten abgeschlossen worden ist, und wird aus dem ihm zustehenden Personalbudget finanziert. Bevor sie ihre Arbeit bei M begann, hatte Madame bereits für zwei andere Abgeordnete aus seiner Fraktion gearbeitet, kennt sich also in der Büroleitung, dem Redenschreiben und den Anforderungen an die Öffentlichkeitsarbeit aus. Madame hatte sich durchaus auf M gefreut, da er vergleichsweise jung und als neues MdB auf ihre Zuarbeit besonders angewiesen war. Sie hatte allerdings schnell gemerkt, dass mit ihrem neuen Arbeitgeber keine großen politischen Sprünge zu machen sein würden. Das demotivierte sie aber nicht in ihrem Arbeitseifer. M war ihr in einer Weise sympathisch, die außerhalb des Politischen lag. Manchmal sitzt Madame vor ihrem Computer und baut an den Sätzen eines politischen Textes. Dann denkt sie an M, lächelt, weil sie ahnt, dass M den Inhalt ihrer Sätze nie verstehen wird.“

Die Astrologin ist zu Beginn des Romans nur schwer in ihren menschlichen Eigenschaften zu erkennen. Sie ist die Instanz des Irrationalen im Hintergrund. M spürt sie in sich als Macht, die er sucht, um für sich von dieser Macht profitieren zu können. Sie arbeitet, wie es anfangs kurz protokolliert wird, in Berlin-Friedrichshain „in einer ziemlich verborgenen Hinterhofwohnung in der Sonntagstraße nahe dem Ostkreuz.“ Der Untertitel „Im Hinterhof der Politik“ hat also den doppelten Bezug zur realen Politik und zu diesem Zentrum des Irrationalen in der Astrologie. Schon vor der Sonnenfinsternis werden in M die Weichen für die Durchdringung dieser beiden Hinterhof-Bedeutungen gestellt:

„Vor dem Tag der Sonnenfinsternis beginnt am Montag eine weitere Sitzungswoche in Berlin. Mittags steht für ihn fest, dass er an diesem Tag nicht mehr gebraucht wird. Die Zeit bis 16.00 Uhr verbringt er mit seinen beiden Mitarbeiterinnen im Büro. Dann verlassen sie ihre Räume. M verabschiedet sich und fährt nach Friedrichshain in die Sonntagstraße. Die Wahrsagerin pendelt ihn in eine tiefe Trance und er vernimmt eine klare Botschaft: Du wirst am 20. März, dem Tag der Sonnenfinsternis, nicht zur Arbeit gehen. Du wirst Zeuge einer starken Verwirrung sein, die du nicht verstehst. Du wirst am Nachmittag jenes Tages erregt zu mir kommen und wirst Zeuge einer Katastrophe sein, die sich hier in der Nähe abspielen wird. Du wirst den Mythos der Sonnenfinsternis wieder entdecken, der in dir tief verborgen ist. Aufziehende Panik begleitet ihn durch die weitere Woche.“

M lebt in Berlin in einer ihm fremden Stadt. Er wittert dort ungesunde Entwicklungen, die ihm erklären, warum Anarchismus und Terrorismus die Hauptgefahren für die Gesellschaft geworden sind. Terrorismus ist deshalb das Schlagwort, hinter dem M seine politische Karriere zu befördern versucht. Dazu braucht er Informationen und Deutungen, die er sich aus den normalen Quellen der Politik, aber eben auch aus den darüber schwebenden Andeutungen zusammenbastelt, die seine Wahrsagerin im Trancezustand erzeugt. Die Bilder, die M aus der Stadt aufnimmt, vermischen sich mit seinen emotionalen Ängsten vor der die Politik die Politik zerstörenden Gewalttätigkeit der Menschen. So zum Beispiel sein Erleben des Ostkreuzes, das damals bereits eine riesige unwirtliche Baustelle war:

„Die Umgebung vom Ostkreuz empfindet M als düster, dreckig, bedrohlich. Die Fremdheit der meisten Menschen in dieser Gegend wird kaum gemildert durch die fröhliche Neugierde vieler Touristen. M stellt sich vor, dass Touristen eigentlich seine geheimen Verbündeten sind. Lieber sieht er sie Unter den Linden als in dieser finsteren Ecke zwischen einer riesigen Baustelle und einer unübersichtlichen Szene der Gelegenheitsgeschäfte. Wie die Touristen hat er eigentlich nichts gegen Araber, Türken, Schwarze und die vielen nicht Arbeitenden, die es hierher verschlagen hat. Aber in ihrer Vielzahl sind sie ihm unheimlich, und er wird das Gefühl nicht los, sie nicht beherrschen zu können. Das Böse entsteht in solchen Brennpunkten wie um das Ostkreuz. Hier, so hat M oft seine Überzeugungen bildhaft ausgemalt, leben zu viele Menschen, die der Gesellschaft feindlich gesonnen sind, die den Staat bekämpfen, von dessen sozialen Segnungen vor allem sie profitieren.“

Wie ein mittelmäßiger Detektiv macht sich M auf die Spurensuche. Er glaubt, der Bundestag könne bedroht sein. Die wenigen Informationen, die er hat, versucht er exklusiv für seine Person und für sein Agieren im Parlament zu nutzen. Die beiden wichtigsten Bezugspersonen, um deren Aufmerksamkeit er buhlt, sind der Vorsitzende des Innenausschusses und sein Fraktionsvorsitzender. Es gehört zu der bewussten Konstruktion des Romans, dass diese erste große Aktion von M nicht auf linke Terroristen gemünzt ist – auch nicht auf Islamisten – sondern vorgeblich nationalistische Aktionisten aus der rechten Szene ins Visier nimmt. Am Ende eines Brief an den Fraktionsvorsitzenden, in dem M die drohenden Anschläge ausmalt, schreibt er:

„Es steht mir als einzelnem Abgeordneten nicht zu, unserer gemeinsamen Verantwortung durch eigene Ermittlungen und mit eigenen Bewertungen nachzukommen. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass wir uns nach den NSU-Skandalen als wehrhafte Demokratie nicht noch einmal zu spät beweisen dürfen. Deshalb möchte ich in Erwägung bringen, ob es angesichts auch der hohen Symbolkraft dieser Anschläge nicht angemessen ist, dass unsere Fraktion einen Untersuchungsausschuss beantragt, der aufzuklären hat, wie es geschehen kann, dass der Deutsche Bundestag zur Zielscheibe von Anschlägen von Extremisten oder gar Terroristen werden kann. Selbstverständlich würde ich einem solchen Ausschuss gerne angehören.“

Madame, seine Mitarbeiterin, versucht ihn vor zu schnellen Schritten zu bewahren, vergeblich:

„Madame macht ein paar Schritte in seinen Raum hinein und setzt sich auf die Lehne eines Sessel an der Vorderseite des Besprechungstisches. Ihr Chef steht fast ungeschützt vor seinem Schreibtisch, und sie schaut ihm direkt ins Gesicht. Sie holt tief Luft und merkt, wie sie ruhiger wird, wie ihr die Sätze auf die Zunge kommen, die sie sich vorhin überlegt hatte, als sie zur Kenntnis nehmen musste, dass die Briefe bereits nicht mehr im Büro waren. „Ich hatte Ihnen die Notiz geschrieben, weil ich überzeugt war, es könne der Sache nur gut tun, noch einmal eine Nacht über die Absicht zu schlafen, einen Untersuchungsausschuss anzuregen. Ich hoffte, im Gespräch können wir klären, ob wir genügend Indizien und Argumente haben, um für diesen Vorschlag Verständnis und Unterstützung Ihrer Kollegen beanspruchen zu können.“
M schaut sie nicht an, während sie redet. Seine Augen liegen abgelenkt auf dem dicken Stapel der Unterlagen für die gleich beginnende Sitzung. Er braucht diesen kurzen verbalen Schlagabtausch mit seiner Mitarbeiterin, will ihn aber auch nicht richtig. Am liebsten wäre es ihm jetzt gewesen, der Gong für die Abgeordneten wäre in dieses Gespräch gefallen, das Zeichen, sich nun in den Plenarsaal rufen zu lassen und die Plätze einzunehmen. Er schaut auf seine Uhr und vergewissert sich, dass es bis zum befreienden Gong noch etwas dauern wird. So gewinnt er Zeit und bewegt sich langsam hinter seinen Schreibtisch, setzt sich auf seinen Stuhl und faltet seine Hände auf der Tischplatte. Die innere Ordnung stellt sich bei ihm wieder ein, die Dinge um ihn herum verlieren ihr provozierendes Eigenleben. Es ist wieder klar, wer hier Chef ist. Durch die geöffnete Tür ruft er seiner Sekretärin mit seiner liebenswürdigen Stimme zu: „Schatz, hast du für uns noch einen Kaffee?“ Er wendet sich nun seiner Mitarbeiterin zu, die er mit konzentriert ernster Miene ins Visier nimmt. „In der Politik gibt es Situationen, in denen entschieden werden muss, auch wenn noch nicht alle Fakten und Argumente auf dem Tisch liegen, die gegen diese Entscheidung ins Feld geführt werden können.“ Seine Augen bleiben jetzt fest gerichtet auf das Gesicht von Madame.“

Die erste große Aktion von M scheitert. Es kommt im Bundestag nicht zu dem entscheidenden, von M so heiß erwarteten Gespräch mit dem Fraktionsvorsitzenden. Etwas anderes platzt mitten in die Ablaufdramaturgie:

„Er konzentriert sich nun vollständig auf seinen Fraktionsvorsitzenden und wartet, dass sich dieser von seinem Platz erhebt. Denn er hat sich vorgenommen, ihm im angemessenen Abstand nach draußen zu folgen, sobald der Vorsitzende nicht weit von ihm den Saal verlässt. Nun nimmt er wahr, wie auf einmal ein Saaldiener auf den Fraktionschef zugeht und diesem einen Zettel übergibt. Der Fraktionsvorsitzende überfliegt ihn schnell und M glaubt erkennen zu können, wie Fassungslosigkeit, Erschrecken und Erstarrung von seinem Freund Besitz ergreifen. „Nur keine Ablenkung, kein Zwischenfall“, schießt es M durch den Kopf. „An meiner Mission geht kein Weg vorbei“, sagt er sich und registriert, wie ihn diese Bilanz beruhigt. Doch irgendetwas muss geschehen sein. Denn der Fraktionsvorsitzende ist jetzt in Bewegung. Eine kleine Traube ratloser und betroffen ausschauender Kolleginnen und Kollegen aus den ersten Reihen stehen da mit gleicher Fassungslosigkeit  in den Gesichtern, die er bereits bei seinem Chef erkannt hatte. Im Plenum entstehen jetzt überall die kleinen Veränderungen im Verhalten der Abgeordneten. Die parlamentarische Ordnung ist aus den Fugen.
Um 11.10 Uhr unterbricht der Präsident des Bundestages die Sitzung. Er läutet mit seinem Glöckchen und wartet, bis in den gut gefüllten Reihen des Hauses Ruhe eingetreten ist. Auch in seinem Gesicht ist das schreckliche Ereignis geschrieben, das er gleich verkünden wird. „Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen eine sehr traurige Nachricht überbringen. Soeben ist bekannt geworden, dass vor wenigen Minuten ein Flugzeug in den Bergen der südlichen Alpen etwa 100 Kilometer nördlich von Nizza abgestürzt ist. Es handelt sich um einen Airbus A 320 der Germanwings, einer Tochter der Deutschen Lufthansa, mit der Flugnummer 4U9525 auf ihrem Flug von Barcelona nach Düsseldorf. An Bord waren 150 Personen, 144 Passagiere, zwei Piloten und vier Flugbegleiterinnen. Wir müssen davon ausgehen, dass alle ihr Leben verloren haben. 70 Personen unter den Opfern sollen deutsche Staatsbürger gewesen sein.“

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