Werden und Sein

Dieses Kapitel enthält zwei Lebensläufe von zwei Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind. Sie sind den Recherchen von Madame zugeordnet und sollen die Hypothese belegen, dass die Lebensgeschichte das politische Wesen eines Menschen prägt. Eigentlich müsste die Geschichte von M für jeden Menschen erzählt werden. Romane würden dann das Archiv der Demokratie. Das Kapitel  hat also exemplarische Bedeutung. Hasans Lebensgeschichte erzählt, wie ein Mensch mit einer fürchterlichen Vergangenheit nach Deutschland in der Hoffnung kommt, sich in die Demokratie einbringen zu können. Obgleich er ein erfolgreicher Wirtschaftsbürger wird, scheitert seine Integration.  Abdullah hat ebenfalls eine fürchterliche Vergangenheit, kommt nach Deutschland und jagt seinen Machoträumen eines großen Kämpfers nach. Er stirbt jämmerlich.

Hasan und Abdullah werden weniger psychologisiert als M. Ihr Lebenslauf gegenüber M bleibt fast formal sachlich. Dennoch werden schon auf dieser Ebene, auf der behördlich das Wissen über Menschen gespeichert wird, Begründungen deutlich, wie ein Mensch politisiert wird. Hasans Geschichte wird folgendermaßen eingeleitet:
„Hasan war 1990 nach Deutschland gekommen. Als Kurde lebte er vor der Flucht mit seiner Frau und zwei Kindern, einem sechsjährigen Jungen und einem vierjährigen Mädchen, in einem kleinen Haus im Nordwesten des Iran nahe an der irakischen Grenze. Er baute Musikinstrumente. Seine Frau nähte. Von ihren Berufen konnten sie einigermaßen gut leben, weil ihre Arbeitsprodukte bei der persischen Bevölkerung sehr gefragt waren.“

Hasan wird Zeuge des fürchterlichsten Gifanschlags des Diktators Hussein in Halabdscha. Die Folgen werden für den säkularisierten Kurden schließlich unerträglich. Zunächst:
„Vier Halabdschaflüchtlinge, stark vom Gift gezeichnet, hatten sich bis in das Haus von Hasan durchgeschlagen, der sie bei sich aufnahm und sie mit seiner Familie pflegte und ihr Überleben rettete. Es waren die quälendsten Wochen im Leben von Hasan. Anfangs gab es noch öffentliche Anteilnahme und offizielle Unterstützung. Sogar ein Kamerateam vom iranischen Fernsehen kam am zweiten Tag in sein Haus. Man wollte der Weltöffentlichkeit beweisen, dass nicht der Iran, wie vom irakischen Diktator in der ersten Reaktion behauptete, den Giftkrieg gegen die Kurden führe, sondern dass allein der „Schlächter von Bagdad“ in der Lage sei, so unmenschlich gegen die eigene Bevölkerung im Irak zu rasen, wie in Halabdscha geschehen. Doch schon bald änderte sich die Lage für Hasan und seine Familie.“

Drangsalierungen, Verschleppungen seiner Frau und Kinder, vollständige Erniedrigungen muss er erleben. Am Ende in seiner Heimat:
„Hasan wurde für 48 Stunden verhaftet und saß in einer dunklen Militärgefängniszelle fest. Seine Frau wurde mit den Kindern in ein Bergdorf verfrachtet, etwa 100 Kilometer entfernt von ihrem Haus. Es wohnten dort nur Frauen und Kinder, und man nannte diese Dörfer Witwendörfer. Was aus den Flüchtlingen geworden ist, wusste keiner, auch die Nachbarn nicht, die Hasan fragte. Als er am dritten Tag wieder zurück in sein Haus kam, war es leer, und alle Einrichtungen waren zerstört und verwüstet. Seine Werkstatt und die Näherei waren niedergebrannt. An einigen Stellen quälte sich noch stinkender Rauch in die Luft.“

Seine Flucht und sein Ankommen in Deutschland ist abenteuerlich, aber auch Fügung glücklicher Umstände. Er landet in der fremden Welt wie in einem Märchen:
„Am dritten Mai 1990 landet Hasan mit einem Rucksack und einer kleinen Hängetasche, leidlich gekleidet in einem karierten Hemd und einem etwas zu großen Anzug, auf dem riesigen Flughafen in Frankfurt. Aus Lautsprechern schallen in kurzen Abständen knappe Sprechansagen, von denen er kein Wort versteht. Um ihn wimmelt es von Menschen in zauberhaften Verkleidungen, kühlen Blicken und zielstrebigen Bewegungsabläufen. Wie Ameisen in einem Labyrinth bunter paradiesischer Verkaufsstände bewegen sich hastige Menschen. Er wird an Läden und Restaurants entlangeschoben, sieht von innen beleuchtete Bilder an den Wänden, taucht in eine völlig neue Welt voller energischer Geschäftigkeit.“

Seine Eingewöhnung in Deutschland ist auch eine Reise zu sich selbst, gegen Widerstände im Flüchtlingsheim und voller Offenheit für das Neue, in das er die Träume seiner alten Heimat projiziert sind. Ihm gelingt es, seine Familie nach Deutschland zu holen und ein erfolgreiches Leben mit Erwerb und freundlichen Umgangsformen mit seinen neuen Mitmenschen aufzubauen. Aber Partizipation, Teil der ersehnten Demokratie zu werden, misslingt. Seine Haltung entwickelt sich in Richtung Resignation:
„Hasans Begeisterung für die Demokratie ist das Fundament für seinen Seelenfrieden im neuen Land geblieben. Alle Versuche jedoch, durch ein Mitgliederaufnahmeverfahren, Fuß in ihren Organisationen zu fassen, sind gescheitert. Es gab nur eine nicht einmal ernst gemeinte Anfrage aus den Kreisen des örtlichen Schützenvereins im Dorfwirtshaus, ob er nicht beim nächsten Schießen und dem anschließenden feuchten Männerabend mitmachen wolle. Hasan wollte nicht und wurde auch nie wieder von irgendwem gefragt. Das Dorf ist im Laufe der vielen Jahre ihm und der Familie gegenüber immer verschlossener geworden. Sich in irgendwelchen Multikultigruppen zu wärmen, ist nicht möglich. Die gibt es weit und breit nicht. Hasan macht sich viele Gedanken, wie es möglich ist, einen demokratischen Staat zu unterhalten ohne demokratische Grundsätze in der Gesellschaft zu verankern.“

So wenig er mit den Deutschen klar kommt, so gefährlich gerät er zwischen die Linien, hinter denen Migranten ihre Machtansprüche über ihre Glaubensbrüder zu organisieren versuchen. Hasan fühlt sich gejagt und auf sich selbst zurückgeworfen. Das Ende ist Einfügen in das Schicksal und Hoffen auf die nächste Generation:
„Die Integration fängt vielleicht erst in der nächsten Generation mit den Kindern an? Hasan und seine Frau hofften das lange und taten alles dafür. Auch die Kinder geben sich redlich Mühe und sind erfolgreiche Akteure in der deutschen Leistungsgesellschaft. Aber die beiden Alten fühlen von Jahr zu Jahr mehr, wie einsam auch die Kinder bleiben. Sie wissen nicht, wer sie sind, wohin sie wirklich gehören, wo die Mitte ihres Lebens liegt. Sie singen die Lieder ihrer Eltern, spielen auf den Instrumenten ihres Vaters, kochen die Köstlichkeiten ihrer Mutter. Die Kinder besuchen ihre Eltern nur selten. Aber sie besuchen auch andere Menschen nur selten. Nur das kurdische Neujahrsfest feiern sie gemeinsam in großer Gesellschaft, fröhlich, melancholisch. Dann klingen vertraut und strahlend die Musikinstrumente, die Hasan gebaut hat.

Mit Abdullah erzähle ich die Geschichte eines jungen Geflüchteten, der bei uns die Attribute Gefährder und Gotteskrieger erhält. Aus seinen engen Beziehungen seiner Innenwelt mit den Strukturen eines ihn ausbeutenden Machtsystems baut er sich seine eigene Fatamorganawelt und wird am Ende erschossen. Diese Geschichte ist meines Wissens das erste Dokument über einen 28 Jahre alt gewordenen Mann, der sich in Deutschland zu einem IS-Krieger entwickelt, nach Syrien und in den Irak zieht, um auf dem Weg des Kalifen zur Eroberung von Mossul umzukommen. Die Geschichte verläuft dramatischer als die von Hassan und enthält viele recherchierte Details aus der IS-Kampfzeit. Das deutsche Umfeld wird vorwiegend aus seiner Sicht beschrieben und gerät bisweilen zur Karikatur:
„Irgendwie fühlt sich Abdulla den Männern in Uniform näher als den Menschen, die er sonst auf der Straße sieht. Er hält sie zwar nicht für richtige Kämpfer, aber er hält ihnen zugute, einen richtigen Beruf gewählt zu haben. Er meint sogar, sie würden ahnen, mit seiner Person einen ihnen verwandten Menschen vor sich zu haben. Anders kann er sich nicht erklären, dass sie alles vermeiden, ihm weh zu tun. Sie sind, so nimmt er es wahr, vornehmlich mit der Erstellung von Protokollen beschäftigt, deren Inhalte Abdulla weitgehend selbst diktieren darf. Dass kannte er nicht aus dem Irak und auch nicht aus dem Libanon. Auch die Richter in den schwarzen Roben sind für ihn milde Amtspersonen. Von seinem Imam hat er gelernt, diesen Amtspersonen nie zu widersprechen und ihnen immer freundlich Auskunft zu erteilen, ob wahr oder erlogen. Wichtig sei es nur, dass sie kein tieferes Wissen erlangen können, mit wem sie es zu tun haben, über wen sie zu Gericht sitzen.“

Über seine salafistische Moschee wird Abdulla Kämpfer und Terrorist:
„Weit weg von ihm und den ihm zugewiesenen deutschen Ämtern und Hilfsstellen wird lange nach seiner letzten Bewährungsstrafe im Jahr 2012 eine Akte angelegt, in der Informationen zu der Vermutung zusammengeführt werden,  er könne ein Gefährder der öffentlichen Sicherheit als Mitglied einer Gruppe sein, die in Europa den Aufbau des Islamischen Kalifats im vom Bürgerkrieg heimgesuchten Syrien und dem politisch völlig zerrütteten Nachkriegsirak vorbereitet. Man solle ihn im Auge behalten, vor allem seine Verbindungen mit der in Sicherheitskreise bekannten salafistischen Moschee beobachten. Durch einen Agenten im Bundeskriminalamt erfährt Abdulla Hussein von diesem Eintrag und erhält zusätzlich den Rat, seine konspirativen und terroristischen Aktivitäten neu zu organisieren und die Moschee nur noch zum Beten zu betreten.“

Die weitere Geschichte nimmt nun ihren Lauf und spielt in den Wüsten von Syrien und dem Irak. Abdullah bewährt sich als Kämpfer und macht steile Karriere in der Organisation des IS:
„Es ist für Abdulla die größte Aufwallung seines Gefühlslebens, wenn ihm seine Getreuen die rechte Hand küssen und sich tief vor ihm verbeugen. Die Frauen, nun von den Füßen bis über die Haare in die schwarzen Kleider und Umhänge gehüllt, huldigen ihm, wenn sie sich vor seine Füße werfen. Das erregt ihn mehr, als wenn er mit der ihm Angetrauten des Nachts im Bett liegt, weil er nicht mehr den Weg ins Flüchtlingsheim findet. In solcher Lage ist seine Stimme laut und gewaltig, wenn er im Geist des Zornes redet und über die Süße des Lebens im Paradies predigt.“

Er bekommt nun den Ehrennamen Abu al-Dulaimi, wird einem mächtigen Stamm zugeordnet, was ihm schließlich zum Verhängnis wird. Bevor es in die Schlacht um Samarra geht, kommt es zur ersehnten Begegnung mit dem Kalifen, eine eher lächerliche Figur, in einem Zimmer seiner Befehlszentrale. Das Ende dieser Begegnung stimmt schon auf Künftiges ein:
„Der Kalif erhebt sich und schickt sich an, ein stilles Örtchen im Haus aufzusuchen – er kenne sich ja hier im Haus seines Freundes sehr gut aus. Er verlässt den Salon. Abu al-Dulaimi wartet. Er wartet ziemlich lang und merkt, er hat zu lange gewartet. Er klingelt, und der Freund erscheint mit freundlichem Lächeln. „Unser Gast ist abgereist“, sagt er verschmitzt. Tatsächlich gibt es keine Spur, als Abu la-Dulaimi durch die Haustür nach draußen tritt. Keiner hat den Kalifen gehen gesehen. Er ist nicht mehr da.“

Auf einer Kreuzung vor der Stadt wird der Befehlshaber Abu al-Dulaimi aus dem Rückhalt erschossen. Wir wissen das alles, weil seine Ehefrau über die ganze Zeit Tagebuch geführt hat:
„Er hörte noch ein Knallen und Surren einer Kugel. Er duckt sich zur Erde, fällt mitten in die nächste Kugel, die seinen Kopf sprengt. Er war sofort tot. Die Kumpel schrien vor Schmerzen und rannten kopflos umher. Es fiel kein weiterer Schuss. In das Schreien und Jammern mischten sich die Gesänge aus den Lautsprechern der Vielen, die nun ihren Zug auf die Stadt in Bewegung setzten. Marschierend zogen sie näher und näher. Das Entsetzen erschütterte die lange Kolonne, als sich die Nachricht verbreitete, vorne an der Spitze stehe verlassen das Auto des Kommandanten, der getötet davor im Staube gefallen sei. Samarra konnte nicht erobert werden. Abu Dulaimis Frau, die jetzt hochschwanger ist, schließt ihr Tagebuch, nachdem ihr die Nachricht über den Tod ihres Mannes in Tränen ausgebreitet worden war. Die Lebensgeschichte, die sie erzählt, ihre Geschichte, ist mit dem Tod ihres Mannes und dem Kind in ihrem Bauch zu Ende. In einem Konvoi mit Kämpfern und Frauen, dem die Freundinnen und Freunde aus Deutschland nicht angehören, wird sie vor die Tore von Mossul transportiert, wo sich ihre Spuren verlieren.
Das Tagebuch blieb zurück in Samarra.“

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